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Stefan Troebst

„1945“ als europäischer Erinnerungsort?

21 August 2011
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Walter Benjamins berühmtem Diktum zufolge heißt „Geschichte schreiben […], Jahreszahlen ihre Physiognomie geben“1. Daten dieser Art sind dabei nicht nur mnemotechnische Interpretationshilfen, sondern stellen vor allem hochabstrakte Zuspitzungen, Umwälzungen und Brüche dar. Insofern können sie also durchaus die Qualität dessen gewinnen, was Pierre Nora als Erinnerungsort im metaphorischen Sinne definiert hat.

Der Leipziger Historiker Dan Diner hat indes unlängst darauf hingewiesen, dass eine Jahreszahl wie „1945“ für ganz unterschiedliche, ja gegensätzliche lieux de mémoire stehen kann, und hat die multiple Bedeutung des 8. Mai 1945 anhand der drei Chiffren „Reims, Karlshorst, Sétif“ aus westalliierter, sowjetischer und außereuropäischer Perspektive exemplifiziert2.

„Reims“ und „Karlshorst“ stehen dabei natürlich für die beiden Zeremonien der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands in den Hauptquartieren der US-amerikanischen bzw. sowjetischen Streitkräfte, wohingegen „Sétif“ ein Kolonialverbrechen am selben Tag meint, ein Massaker an mehreren zehntausend Muslimen durch französische Sicherheitskräfte in Algerien.

Was Diner auf die „Gedächtnisikone 8. Mai 1945“ und ihre multiple westliche, östliche und koloniale Bedeutung zugespitzt hat, gilt für den übergreifenden Erinnerungsort „1945“ in noch größerem Umfang. Die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki sowie die Kapitulation Japans im Sommer 1945 etwa stehen für dessen asiatische Komponente. Erinnerungsorte der genannten Art sind national konnotiert – mit der Folge, dass sie Gegenstand, gar Auslöser von Konflikten zwischen nationalen Erinnerungskollektiven werden können. Dies aber bedeutet, dass „1945“ möglicherweise nicht als Fundament einer künftigen paneuropäischen Erinnerungskultur taugt. Warum dem so ist, soll im Folgenden mittels zehn Thesen zu den verschiedenen gesamteuropäischen und nationalen Bedeutungs-, Konsens- und Konfliktebenen des Erinnerungsortes „1945“ belegt werden.

I. „1945“ ist unzweifelhaft ein zentraler europäischer lieu de mémoire, wenn nicht gar der Erinnerungsort der heute lebenden Europäer. Er ist dabei, wie gesagt, höchst umstritten, da er in den verschiedenen Teilen Europas gänzlich unterschiedlich interpretiert wird. Bundespräsident Richard von Weizsäcker hat 1985 in seiner bekannten Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes festgehalten: „Sieg oder Niederlage, Befreiung von Unrecht und Fremdherrschaft oder Übertragung zu neuer Abhängigkeit, Teilung, neue Bündnisse, gewaltige Machtverschiebungen – der 8. Mai 1945 ist ein Datum von entscheidender historischer Bedeutung in Europa“3.

II. Als überaus hilfreich bei der Kartierung der divergierenden Interpretation von „1945“ erweist sich Oskar Haleckis nach kultur- und religionsgeschichtlichen Kriterien vorgenommene Einteilung Europas in drei große Geschichtsregionen – „Westeuropa“, „Mitteleuropa“ und „Osteuropa“ (bei weiterer Untergliederung Mitteleuropas in „Westmitteleuropa“ und „Ostmitteleuropa“)4. Dies ist ungeachtet Haleckis makrohistorischer Langzeitperspektive insofern kein Zufall, als sich dieser Teil seines geschichtswissenschaftlichen Œuvres bei näherer Betrachtung als unmittelbares Produkt von Zweitem Weltkrieg und beginnendem Kalten Krieg herausstellt.

III. Noch immer prägend für die Erinnerung an 1945 ist die „alliierte“ bzw. transatlantische Komponente, also diejenige der Mächte der Anti-Hitler-Koalition, derzufolge der lieu de mémoire „1945“ für eine „Befreiung Europas“, für den „Sieg über den Hitlerfaschismus“, gar für den „Triumph der Demokratie“ steht. Diese Interpretation ist dominierend im Haleckischen „Westeuropa“, also vor allem in Großbritannien und Frankreich (einschließlich der USA), wie in „Osteuropa“, das heißt im GUS-Bereich, hier primär in der post-sowjetischen Russländischen Föderation.

IV. In Haleckis „Westmitteleuropa“, also in Deutschland und Österreich, weist der Erinnerungsort „1945“ ambivalenten Charakter auf: Er steht für das Ende einer mörderischen Diktatur, aber zugleich lange Zeit auch für „Niederlage“, „Zusammenbruch“, gar „Katastrophe“, für „Besatzung“, „Siegerjustiz“ und „Teilung“, im Ostteil Deutschlands überdies für den Beginn einer neuerlichen Diktatur. „Der 8. Mai ist für uns Deutsche kein Tag zum Feiern“, so Richard von Weizsäcker in seiner besagten Rede zum 8. Mai 1985, „[u]nd dennoch […] gilt: Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung“5.

V. Im Haleckischen „Ostmitteleuropa“, hier vor allem in Polen und in den drei baltischen Staaten, ist die Chiffre „1945“ eindeutig negativ besetzt, da nahezu identisch mit einem anderen Erinnerungsort, nämlich mit „Jalta“. „Jalta“ steht dabei für den Verrat durch die eigenen anglo-amerikanischen Verbündeten mittels Auslieferung an Stalin und für den lückenlosen Übergang von einem diktatorischen und fremdethnischen Besatzungsregime zu einem anderen.

VI. Die durch das Epochenjahr 1989 möglich gewordene Erinnerungspluralität von „1945“ hat im politischen Raum die Form heftiger Gedächtniskonflikte angenommen. Dies gilt primär für den diesbezüglichen schroffen Gegensatz zwischen „Ostmitteleuropa“ und „Osteuropa“. Aus baltisch-polnischer Sicht steht „1945“ für den Übergang von der einen, nationalsozialistischen Fremdherrschaft zur nächsten, nämlich der sowjetischen, in russländischer Perspektive hingegen für die „Zerschlagung des Hitlerfaschismus“ und die „Befreiung der Völker Europas“ – einschließlich der Esten, Letten, Litauer und Polen.

VII. In einer gegenläufigen Entwicklung zu den erbitterten erinnerungskulturellen Konflikten zwischen „Ostmittel-“ und „Osteuropa“ ist der Gegensatz zwischen den ehemaligen Weltkriegsgegnern nahezu geschwunden. Dies gilt sowohl für die mittlerweile konsensuale Interpretation von „1945“ zwischen dem „Westeuropa“ der Alliierten und dem nationalsozialistischen „Westmitteleuropa“ – als Beginn von Entnazifizierung, Demokratisierung und Wirtschaftswunder – als auch für die interpretatorische Übereinstimmung zwischen „Westmitteleuropa“ und „Osteuropa“, also zwischen dem wiedervereinigten Deutschland samt Österreich und den postsowjetischen Gesellschaften, bezüglich des verbrecherischen Charakters des nationalsozialistischen Angriffskriegs und der kriminellen deutschen Besatzungs- und Vernichtungspolitik.

VIII. Gleichfalls weitgehend konsensual ist mittlerweile die Erinnerung an „1945“ in „Westmittel-“ und „Ostmitteleuropa“, also zwischen Deutschland und Österreich auf der einen und Polen und der Tschechischen Republik auf der anderen Seite. Allerdings wird der Erinnerungsort „1945“ von demjenigen der „Vertreibung“ partiell überlagert und damit der „mitteleuropäische“ Erinnerungskonsens geschwächt. Der „ostmitteleuropäischen“ Post hoc, ergo propter hoc-Argumentation steht in Teilen der Gesellschaften „Westmitteleuropas“ die Ansicht gegenüber, eine solche Kausalität sei nicht gegeben. Entsprechend wird die „Vertreibung“ der Deutschen als Verbrechen sui generis, nicht als Konsequenz nationalsozialistischer Besatzungspolitik samt ihrer Komponenten Zwangsumsiedlung und Ausrottung gedeutet.

IX. Noch konfliktträchtiger als das Verhältnis der beiden lieux de mémoire „1945“ und „Vertreibung“ ist dasjenige von „1945“ und „Holocaust“: In „Ostmitteleuropa“ wird das Postulat einer gesamteuropäischen Holocaust-Erinnerung als unmittelbare Konkurrenz zur eigenen „Jalta“-Interpretation, als unerwünschte Ermahnung, gar als unterschwelliger Antisemitismusvorwurf aufgefasst. Und auch im postsowjetischen „Osteuropa“ gilt „Holocaust“ als fremdes, da genuin deutsches, entsprechend mit den eigenen National- und Imperialgeschichten unverbundenes Erinnerungsphänomen.

X. Die aus „westeuropäischer“ wie „westmitteleuropäischer“ Perspektive enge Verknüpfung der Erinnerungsorte „Holocaust“ und „1945“ samt gesamteuropäisch-normierendem Anspruch stößt in „Ostmitteleuropa“ sowie partiell in „Osteuropa“ aber auch noch aus einem anderen Grund auf Widerspruch: Die sowjetkommunistische Diktatur wird hier erinnerungskulturell mit der nationalsozialistischen auf eine hierarchische Stufe gestellt, entsprechend dem westlichen Holocaust-Gedächtnis eine als gleichwertig apostrophierte östliche GULag-Erinnerung entgegengesetzt. Dies wiederum hat etwa in Deutschland und den USA heftigen Protest samt Antisemitismusvorwürfen ausgelöst, ohne dass die Kernfrage nach den Ambivalenzen des Erinnerungsorts „1945“ thematisiert würde.

Mit Bezug auf die negative nordafrikanische Prägung des Erinnerungsorts „1945“ hat Dan Diner es als zweifelhaft eingestuft, „ob dem Signum des 8. Mai 1945 als positives Gründungsereignis westlicher Prägung eine unbehelligte Zukunft beschert sein wird“6. Dasselbe gilt für den 8. (bzw. gemäß sowjetischem Brauch 9.) Mai 1945 als positives Gründungsereignis „östlicher Prägung“ aufgrund der genannten ostmitteleuropäischen „Jalta“-Antithese. So wie „Sétif“ die europäische Gedenkikone „1945“ in außereuropäischer Perspektive in Frage stellt, so tut dies „Jalta“ aus einer binneneuropäischen Sicht. Daher die eingangs geäußerte Vermutung, dass die durch das Epochenjahr 1989 möglich gewordene offene Austragung der Kontroversen um den zentralen europäischen Erinnerungsort „1945“ nicht nur weiterhin anhalten, sondern an Schärfe zunehmen wird. Die Erinnerung an das Kriegsende und an die Errichtung der Nachkriegsordnung ist derzeit bei weitem zu gegensätzlich – und auch partiell zu traumatisch –, um als Fundament einer europäischen Erinnerungskultur dienen zu können.

1 Walter Benjamin, Das Passagen-Werk. Hrsg. v. Rolf Tiedemann. Bd. 1, Frankfurt/M. 1983, S. 595.