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Teresa Kulak

Wrocław / Breslau in der Geschichte und in der Erinnerung der Polen

21 August 2011
Tags
  • Polen
  • Breslau
  • Schlesien
  • Deutsche
  • Gedächtnis
  • Erinnerungspolitik

Wrocław/ Breslau war die größte Stadt in den Westgebieten, die nach dem Zweiten Weltkrieg an Polen fiel. Infolge der Nachkriegsmigrationen fand ein vollständiger Austausch der Bevölkerung statt. Mit Erlaubnis der sowjetischen Besatzungsmacht nahm die polnische Verwaltung am 9. Mai 1945 ihre Tätigkeit in der noch brennenden Stadt auf, kaum drei Tage nach der Kapitulation der Festung Breslau. Die neuen Verwaltungsbehörden fanden dort ca. 165.000 Deutsche vor, eine kleine Gruppe knapp mit dem Leben davongekommener deutscher Juden und 3000 Polen, die entweder der Breslauer Polonia der Vorkriegszeit angehörten oder zu den Zwangsarbeitern aus aller Herren Länder zählten, die in der Stadt die dramatischen Tage der Belagerung durch die Rote Armee überlebt hatten.

Die vormaligen Zwangsarbeiter verließen die Stadt nach und nach, Menschen aus verschiedenen Teilen Polens kamen dort an. Dieser Zuzug verstärkte sich ab August 1945, als die Bewohner der östlichen Wojewodschaften Vorkriegspolens einzutreffen begannen, die unter Zwang über die „Curzon-Linie“, das heißt über die neue polnisch-sowjetische Staatsgrenze am Bug aussiedelt wurden. Es trafen Menschen ein, die aus ihrer heimatlichen Umgebung herausgerissen worden waren und die entgegen der tatsächlichen Rechtslage als „Repatrianten“ bezeichnet wurden.

Das damalige Breslau wirkte abschreckend wegen der ungeheuren Zerstörungen, die in einigen Stadtteilen bis zu 80 Prozent der Vorkriegsbebauung betrafen. In den Ruinen kam es zu Ausschreitungen seitens sowjetischer Soldaten, auch fanden in ihnen Diebe und organisierte Banden Unterschlupf. Die Lage in der Stadt war anfangs nicht dazu angetan, die Niederlassung im, wie man damals sagte, „wilden Westen“ erstrebenswert zu machen. „Im ersten Jahr“, so erinnerte sich ein aus Poznań/Posen gekommener Student der Breslauer Universität, „sah ich immer wieder Einwohner der Stadt in abgerissener Kleidung, alle sahen aus, wie soll ich sagen, wie auf der Durchreise. Es hatte den Anschein, dass jeder Einwohner nur für kurze Zeit gekommen war und an seinen Herkunftsort zurückkehren würde.“[1] Die Ankömmlinge nahmen eine „stumpfe Lethargie“ der Stadt und ihren „deutschen Charakter“ wahr, der manch einem „den Gedanken eingab, diese Totenstadt wieder zu verlassen“. Die meist unter dramatischen Umständen und zwangsweise aus den östlichen Grenzgebieten ausgesiedelten Polen konnten das freilich nicht tun.

Im Gegensatz zu ihnen kam eine große Zahl von Einwohnern aus Zentralpolen freiwillig, um sich niederzulassen – manche auch nur zum Plündern. Wegen der großen kulturellen Unterschiede zwischen den verschiedenen Gruppen verlief ihr Zusammenleben zu Anfang nicht ohne Reibungen, aber allmählich wuchs das wechselseitige Verständnis, und es bildete sich eine städtische Gemeinschaft. Es war eine bemerkenswerte Erscheinung im Breslau der Nachkriegszeit, dass die Ankömmlinge ziemlich rasch Bande untereinander knüpften und parallel zum Wiederaufbau der Stadt die Umwandlung des deutschen Breslau in das polnische Wrocław eintrat. Dabei spielte nicht zuletzt die Geschichtspolitik der neuen, kommunistischen Regierung Volkspolens eine große Rolle. Heute wissen wir, dass die Geschichtspolitik der Kommunisten vollständig durch deren Abhängigkeit von der UdSSR und die Propaganda in volkspolnischen Zeiten kompromittiert ist, aber in der Anfangsphase wurde sie von Wissenschaftlern, Journalisten und Publizisten der Vorkriegszeit unterstützt, die bereits während des Krieges ein Programm der territorialen Veränderungen in der Nachbarschaft zu Deutschland entwickelt und die Grenzverschiebung bis zur Oder und Glatzer Neiße, manchmal auch bis an die Lausitzer Neiße gefordert hatten. Für sie war der historische Bezugspunkt das Polen der Piastenzeit, das bis an Oder und Ostsee reichte und in dem Breslau seit dem Jahr 1000 die Hauptstadt einer der Gnesener Metropole unterstellten Diözese war, errichtet zugleich mit den Bistümern von Krakau und Kołobrzeg/ Kolberg. Im Gebiet unter der dynastischen Herrschaft der Piasten war Breslau das Zentrum der Verwaltung ganz Schlesiens, ein fester Platz und Stützpunkt in den Kriegen mit Böhmen und Deutschland. Nach der aus dem 12. Jahrhundert stammenden Chronik des Gallus Anonymus war Breslau einer der „sedes regni principales“, also der Hauptresidenzen des Königs. Diese Beziehungen lockerten sich während des Zerfalls Polens in Teilfürstentümer. Auch die Wiedervereinigung Polens von 1320 stellte das vorherige Gebiet nicht wieder her, obwohl Kasimir der Große, der letzte Herrscher aus der Piastendynastie, sich um die Wiedergewinnung Breslaus bemühte. Bis zur Mitte des 13. Jahrhundert waren die meisten Einwohner Breslaus der Nationalität nach Polen, obwohl in der Stadt auch Wallonen, Juden und Deutsche ansässig waren. Die Anzahl der Deutschen stieg erst nach der Stadtlokation von 1261 nach Magdeburger Recht an. Nach der Lokation wurde der Gebrauch der polnischen Sprache in den Stadtbüchern allmählich aufgegeben, vor Gericht wurde sie jedoch noch bis 1337 benutzt. Die Traditionen der Zugehörigkeit zum Herrschaftsgebiet der ersten Piasten überdauerten in den polnischen Konzeptionen zur Westgrenze; diese wurden um 1900 im politischen und historischen Schrifttum für richtig befunden und festgeschrieben.

Die hier umrissenen „polnischen“ Aspekte der Geschichte Breslaus und Schlesiens wurden von der Regierung benutzt, um die neuen Bewohner mit ihrer Gegenwart vertraut zu machen. Die Verschiebung Polens nach Westen wurde als Rückkehr der „wiedergewonnenen Gebiete“ in das Mutterland gefeiert, nach „zehn Jahrhunderten der Kämpfe“ mit dem deutschen Expansionismus, der bis in die Zeit der ersten Piasten zurückreiche. Der kommunistische Staat unternahm es, mit einer gezielten Propaganda das gesellschaftliche Gedächtnis zu manipulieren, um die vermeintliche Logik der Geschichte im Verlauf eines Jahrtausends nachzuweisen, den Sieg der polnischen Staatsräson und der Bestimmung der ganzen Nation. Die Zensur kontrollierte die Propagierung der gewünschten Inhalte und sorgte für eine ständige Aktualisierung der Vorstellungen von der Vergangenheit, indem sie unbequeme Fakten auslöschte oder mit Schweigen überging. Ausgeblendet wurden das 15. bis 19. Jahrhundert, da in dieser Zeitspanne ein kleiner polnischer Bevölkerungsrest eine Existenz eher am unteren Ende der sozialen Hierarchie gefristet hatte. Man bemühte sich, diejenigen Inhalte aus dem kollektiven Gedächtnis zu löschen, die die Herausbildung eines Bewusstseins der tiefen Verwurzelung der Polen in der Vergangenheit Breslaus und Schlesiens hätten stören und das Ethos der Schicksalsgemeinschaft seiner früheren und gegenwärtigen Bewohner schwächen können. Dabei versuchte man die Behauptung zu belegen, die Geschichte der polnisch-deutschen Beziehungen lehre, dass die Aussiedlung der Deutschen die einzige und gerechte, zudem völkerrechtlich geregelte Lösung gewesen sei.

Heute lassen sich diese Anstrengungen eindeutig interpretieren, nämlich als ideologisch gesteuerte Versuche, das historische Gedächtnis zu formen. Bewusst wählte man aus der Vergangenheit bestimmte Ereignisse, Personen und Symbole, um Bedürfnisse der aktuellen Politik zu bedienen und die Gegenwart zu legitimieren. Dabei war die antideutsche Stoßrichtung für diese Unternehmungen der Regierung charakteristisch, welche die Tragik des sechs Jahre dauernden Krieges herausstellten wie auch für die sporadisch auftretenden Befürchtungen, die in Potsdam festgesetzte Grenze könne revidiert werden. Für eine Minderheit war es das Schreckgespenst eines neuen Krieges, ein Gefühl des Provisorischen, das Leben mit gepackten Koffern, für die Mehrheit bedeutete es, die Reihen zu schließen und den Besitzstand und die in den Wiederaufbau investierte Arbeit zu verteidigen. Trotz schwankender Einstellungen gewannen die Machthaber an Rückhalt und Legitimität; zugleich wuchs die Zahl der Einwohner von Breslau. Die Aneignung der Stadt durch die Änderung der Straßennamen schritt fort, und mit dem Wiederaufbau Breslaus wurde der deutsche Charakter der Stadt in den Hintergrund gedrängt. Die neuen Einwohner identifizierten sich nicht mit dem zurückgelassenen Erbe, denn dieses wurde mit einer Nation gleichgesetzt, die für viele Leiden und Verluste verantwortlich war. Langfristig brachte es die politische Atmosphäre des Kalten Krieges dahin, dass die Stimmung der Menschen in den Westgebieten dennoch wechselhaft blieb. Weil die Oder-Neiße-Grenze keine internationale Absicherung besaß, kamen immer wieder Befürchtungen auf, die eng mit den Landsmannschaften verbundenen Regierungen der Bundesrepublik könne sie in Frage stellen. Daher wurde dem Staatsbesuch Willy Brandts und dem Warschauer Abkommen vom Dezember 1970 so große Bedeutung zugeschrieben.

Eine wirkliche Beruhigung trat erst 1991 ein, als in einem bilateralen Vertrag die Anerkennung der polnisch-deutschen Grenze vollzogen wurde. Das hatte positiven Einfluss auf die Haltung der Polen, die nun in der breiten Öffentlichkeit die komplizierte Breslauer Geschichte für sich entdeckten. Seither lassen sie sich von ihr faszinieren und glauben, dass Breslaus kulturelle Traditionen eine Brücke der Verständigung zwischen West‑ und Osteuropa bauen können. Denn auch Deutsche, Tschechen, Österreicher und Juden finden dort Mosaiksteine ihrer Geschichte wieder. Seit den neunziger Jahren bemühen sich die polnischen Breslauer um den Erhalt und die Rekonstruktion auch des materiellen Erbes. Die starke emotionale Verbundenheit der Bewohner mit ihrer Stadt offenbarte sich während der Überschwemmungskatastrophe von 1997. Bereits vorher hatte die Stadtführung beschlossen, das Stadtwappen von 1535 zu reaktivieren, bald darauf kehrten die aus dem Breslauer Rathaus entfernte Herme der Heiligen Dorothea aus dem Warschauer Nationalmuseum und die Pavisen der Stadtwache aus dem 17. Jahrhundert aus dem Polnischen Armeemuseum zurück. Dabei war es unwichtig, dass es sich bei letzterem um die Wache einer deutschsprachigen Stadt unter Herrschaft der Habsburger handelte – sie gilt als Stadtwache Breslaus, der Hauptstadt von Niederschlesien, der Stadt, deren Erbe auch die heutigen Breslauer als das ihre verstehen.

Die Breslauer Erfahrungen zeigen, dass das kulturelle Gedächtnis nicht von der Ereignisgeschichte zu trennen ist – doch spielen die Fakten hierbei eine untergeordnete Rolle, es geht vielmehr darum, was die Gesellschaft aus der Vergangenheit wahrnehmen und für die Gegenwart übernehmen möchte. In der Geschichtswissenschaft wird keine Kontinuität der Geschichte Breslaus und Wrocławs konstatiert. Im kollektiven Gedächtnis dagegen ist ein Bewusstsein für die Magie des Ortes, das gemeinsame Erbe und den respektvollen Umgang entstanden.

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

Jerzy Ran, Ku wyżynom. Pamiętnik studenta wrocławskiego [Zu den Höhen. Erinnerungen eines Breslauer Studenten], Wydział Prawa [Abteilung Recht], Zakład Narodowy  im. Ossolińskich [Ossoliński-Nationalinstitut],  Handschrift 14 574 II, Bl. 212.


Prof. Teresa Kulak (geb. 1941) – Historikerin, Leiterin des Instituts für Polnische und Allgemeine Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an der Universität Wrocław.