Multiethnisches Lemberg?
Seit seiner Gründung leben in Lemberg Angehörige verschiedener Ethnien und Religionen zusammen. Friedliche Koexistenz und gegenseitige kulturelle Bereicherung sowie scharfe, phasenweise gewaltsam ausgetragene Konflikte sind zwei Seiten seiner Geschichte.
Es war über Jahrhunderte hinweg schwer genug, die Interessengegensätze in der Stadt auszutarieren. Doch Lemberg hatte ein weiteres Problem, das im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts friedliche Konfliktlösungen erschwerte.
Die Stadt lag im Schnittpunkt imperialer und nationaler Bestrebungen. Weder Polen noch Westukrainer konnten sich ihren Nationalstaat ohne Lemberg vorstellen, Österreich-Ungarn wollte die Hauptstadt seines Kronlandes nicht aufgeben, der russische Zar sah in diesem Ausläufer der Rus sein Patrimonium, während des Zweiten Weltkriegs wollte Nazi-Deutschland Lemberg zu einem germanischen Bollwerk im slawischen Osten ausbauen, und Stalin reklamierte Stadt und Region für die Sowjetukraine.
Im 20. Jahrhundert kontrollierten alle Prätendenten die Stadt wenigstens einmal. Und wer immer die Macht hatte, begann den öffentlichen Raum mit eigenen Symbolen auszustatten. Straßen erhielten neue Namen, Denkmäler wurden gestürzt und errichtet, Friedhöfe angelegt und zerstört. Lemberg wurde imperial oder national umdekoriert und neu lackiert. Der Stadt wurde auch eine neue Geschichte gegeben, die den eigenen Anspruch legitimierte, das Leben anderer Gruppen und deren Anteil an Kultur und Geschichte der Stadt aber marginalisierte.
Lemberg als Erinnerungsort der „guten“ Habsburgermonarchie
Der Kampf um Denkmäler und um Straßennamen begann lange vor dem Ersten Weltkrieg. Die polnischen Eliten nutzten nach 1867 ihren Spielraum, um ihre Dominanz auszubauen. Die Universität wurde polonisiert, polnische Schulen wurden eingerichtet, Banken und Genossenschaften gegründet, Denkmäler polnischer Dichter, Politiker, Könige und Helden eingeweiht und den Straßen polnische Namen gegeben. Jüdisches Selbstbewusstsein drückte sich im Bau eindrucksvoller Synagogen aus, die später fast alle von den Nazis zerstört wurden. Heute erinnern nur noch Plaketten an die Bedeutung der jüdischen Gemeinde. Alles Ukrainische wurde – mit Ausnahme der griechisch-katholischen Kirchen und der Gebäude ukrainischer Organisationen –, so gut es ging, aus dem öffentlichen Raum verdrängt.
Die heutige Habsburg-Nostalgie ist zum Teil berechtigt. Bei aller „galizischen Armut“ waren die letzten Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg unvergleichlich besser als alles, was später kam. Während auf dem Land – besonders bei Wahlkämpfen und Agrarstreiks – Blut fließen konnte, war in Lemberg eine friedliche Austragung der Konflikte die Regel. Nicht vergessen werden dürfen aber auch die dunklen Seiten der österreichischen Herrschaft im Ersten Weltkrieg. Die österreichischen Behörden richteten Tausende Ukrainer als vermeintliche russische Spione hin und sperrten Zehntausende in Internierungslager.
Dies hat aber der Habsburg-Renaissance bislang nicht geschadet. Das österreichische Erbe ist auch touristisch verwertbar. Restaurants haben sich kaiserlich und königlich dekoriert, Portraits Franz Josephs hängen an den Wänden, und allenthalben versuchen Kaffeehäuser an österreichische Traditionen anzuknüpfen.
Die Verteidigung Lembergs – „Novembertat“ – Pogrom
In der populären polnischen Vorstellung von Lemberg als Antemurale Christianitatis, als Bollwerk Polens und der Christenheit, wurde Europa nicht nur gegen Mongolen, Türken und Tataren, sondern auch gegen Kosaken, später gegen Russen und gegen die Bolschewiken verteidigt. Im polnisch-ukrainischen Krieg um Ostgalizien 1918/19 wurde dieses Muster auch auf die ukrainischen Truppen angewandt. Westukrainische Politiker sahen sich allerdings auf der falschen Seite der Mauer platziert und interpretierten den Untergang der Rus im Mongolensturm und das Zerbrechen ukrainischer Staatlichkeit unter den Schlägen der Roten Armee als tragisches Opfer, das die ukrainische Nation für die Rettung Europas erbracht hatte. Zwar könnten diese Antemurale-Vorstellungen als gemeinsamer polnisch-ukrainischer Erinnerungsort dienen, doch ist dies wegen der antirussischen und kulturkämpferischen Konnotation nicht unbedingt wünschenswert.
Der November 1918 ist der Schlüssel zum Verständnis der Konflikte in Lemberg und Ostgalizien in der Zwischenkriegszeit. Für die Juden war der November untrennbar mit der Erinnerung an den Pogrom verbunden, der sich positiver Sinngebung versperrte. Die Lemberger Juden waren dadurch in einem zentralen Punkt – der Verteidigung Lembergs – aus der polnischen Erinnerungsgemeinschaft ausgeschlossen. Dagegen bildeten die Ukrainer bewusst ihre eigene Erinnerungsgemeinschaft und schufen sich unter ungünstigen Rahmenbedingungen Erinnerungsorte, die den ukrainischen Patriotismus beflügeln sollten. Die Versuche gemäßigter Politiker auf beiden Seiten, selbst im November 1918 noch eine friedliche Lösung zu finden, wurden im aufgeheizten Klima der Zwischenkriegszeit fast als Vaterlandsverrat angesehen. Könnte eine nähere Beschäftigung mit diesen Ausgleichsbemühungen nicht vorhandene zivile Alternativen aufzeigen, die später von der martialischen Helden- und Opfermetaphorik überdeckt wurden?
Die polnisch-ukrainische Deutungskonkurrenz wirkt bis heute nach, während die jüdische Erinnerung an den Pogrom vom 22. bis 24. November 1918 vollständig von der Ermordung der Lemberger Juden im Zweiten Weltkrieg überlagert wurde. Der 80. Jahrestag der so genannten „Novembertat“ (Lystopadovyj čyn) – der Machtübernahme in Ostgalizien und der Gründung der Westukrainischen Volksrepublik – wurde in Lemberg aufwändig begangen.
Zweiter Weltkrieg
Wenn heute die interethnischen Beziehungen in Lemberg während des Zweiten Weltkriegs zum Thema gemacht werden, klaffen die Interpretationen ebenso weit auseinander wie in der Zwischenkriegszeit die Deutung des November 1918: Von einem übernationalen Erinnerungsort ist keine Spur. Ukrainische Autoren weichen der Frage nach der Beteiligung von Ukrainern an Pogromen und der Rolle der Ukrainischen Hilfspolizei gerne aus oder verweisen auf die angebliche Kollaboration der Juden mit der Sowjetmacht. Jüdische Memoirenschreiber machen dagegen Polen und Ukrainern heftige Vorwürfe und klagen sie an, nicht geholfen oder sich sogar am Völkermord beteiligt zu haben. Diese unterschiedlichen Erfahrungen hatten auch Konsequenzen für die Erinnerungen. Bezogen auf den Zweiten Weltkrieg gibt es deshalb nicht nur eine doppelte Erinnerung, sondern eine dreifache Erinnerung an den Krieg.
Nach der Unabhängigkeit 1991 bemühten sich die Westukrainer, wenigstens die auffälligsten Symbole der Zugehörigkeit zur Sowjetunion loszuwerden. Das Lenin-Denkmal verschwand sofort, und auch andere Symbole sowjetischer Herrschaft wurden schnell abgebaut. Unversehrt blieben die Monumente, die an den Sieg der Roten Armee erinnern und das Gräberfeld der Roten Armee. Gleichzeitig ließen es sich die Stadtbehörden nicht nehmen, den großen Nachbarn ein wenig zu ärgern und benannten eine Straße im Stadtzentrum nach Dschochar Dudaev, der die Loslösung Tschetscheniens von der Russischen Föderation betrieben hatte.
Resümee
Lemberg soll von einem Konfliktfeld der polnisch-ukrainischen Beziehungen zum Ort polnisch-ukrainischer Aussöhnung und Kooperation gemacht werden. Sinnbildlich hierfür steht der polnische Soldatenfriedhof des polnisch-ukrainischen Krieges 1918/19. Der Wiederaufbau war von den Präsidenten Polens und der Ukraine über die Köpfe der Lemberger Behörden und Bevölkerung hinweg vereinbart worden. Ein originalgetreuer Wiederaufbau scheiterte am lokalen Widerstand, und einige Nachbesserungen waren nötig, um das Projekt für die Lemberger Ukrainer erträglich zu machen. Als Kontrapunkt wurde vor dem polnischen Soldatenfriedhof ein ukrainisches Ehrenmal gesetzt und ein Gedenkkomplex aufgebaut, der einige problematische Elemente nationaler Opfermythologie enthält.
Die Rekonstruktion des polnischen Soldatenfriedhofs ist einerseits ein hoffnungsvolles Zeichen, andererseits zeigt der Streit um seine Gestaltung, wie schwierig es ist, Lemberg zu einem übernationalen Erinnerungsort zu machen. Zu wichtig ist die Stadt für das nationale Selbstverständnis der Westukrainer und ihre Positionierung im ukrainischen Nationalstaat.
Die Chance wäre da, Lemberg zu einem Ort der Versöhnung zu machen. Dafür aber ist es notwendig, die vergangenen Konflikte in und um die Stadt, den Holocaust und das gegenseitige Morden von Polen und Ukrainern im Zweiten Weltkrieg nicht unter den Tisch zu kehren.
Heute stellen Russen die größte nationale Minderheit. Wie schon früher zwischen Polen und Ukrainern sind auch die Grenzen zwischen Russen und Ukrainern fließend. Mischehen sind häufig, für welche Kultur sich die Kinder entscheiden, ist jeweils ungewiss. Es wäre jedoch blauäugig, das vorhandene Konfliktpotential zu leugnen.
In Lemberg koexistieren, konkurrieren und überlagern sich Spuren und Symbole der verschiedenen Herrschaften sowie der ethnischen und religiösen Gruppen. Über allem liegt ein ukrainischer Mantel, durch den das andere jedoch durchschimmert, ja heute auch bewusst freigelegt wird. Es begann mit der Habsburgwelle, nun kann eine Renaissance der jüdischen und der polnischen Vergangenheit Lembergs beobachtet werden. Verdeckte hebräische und polnische Inschriften werden freigelegt, wenigstens ein Restaurant hat seine Räume mit polnischen Exponaten dekoriert, und die Synagoge der Goldenen Rose soll wieder aufgebaut werden. Zeichen einer neuen Gemeinsamkeit?
Dr. habil. Christoph Mick – britischer Historiker, 2005-2010 ausserordentlicher Professor an der Universität in Warwick. Spezialisiert sich in der neusten Geschichte Russlands und Osteuropas – insbesondere Polens und der Ukraine. Seine wissenschaftlichen Interessen umfassen auch Untersuchungen auf dem Gebiet der Geschichte der Wissenschaft und Technik.