Seit Beginn des Zweiten Weltkriegs sind nahezu sieben Jahrzehnte vergangen. Versucht man eine Bilanz der in diesem Zeitraum in den einzelnen Ländern Westeuropas entwickelten Formen und Traditionen der Bewahrung der Erinnerung an die eigenen Opfer der nationalsozialistischen Verbrechenspolitik zu ziehen, so ergibt sich ein vielschichtiges und sich im Laufe der Zeit kontinuierlich veränderndes Bild. Trotz aller nationalen Unterschiede gibt es zwei Konstanten, die für die Gesamtheit Westeuropas zu benennen sind: Erstens dauerte es Jahrzehnte, bevor der Völkermord an den Juden Europas insgesamt und das Schicksal der jeweiligen nationalen jüdischen Bevölkerung wirkliche Beachtung fand und historisch erforscht wurde. Nur wenige jüdische Überlebende westeuropäischer Herkunft waren aus den Vernichtungslagern in ihre Heimatländer zurückgekehrt. Und dann mussten erst noch Jahrzehnte vergehen, bevor ihrem persönlichen Zeugnis, ihren schmerzlichen Erinnerungen ein angemessener Raum innerhalb der nationalen Erinnerungskulturen eingeräumt wurde.
Erst im Laufe der siebziger Jahre, als das Thema, von den USA und Israel ausgehend, weltweite Aufmerksamkeit fand, begann auch in den einzelnen westeuropäischen Ländern ein öffentlicher Diskurs über das Schicksal der eigenen jüdischen Bevölkerung. Zweitens vergingen noch einmal weitere zwei Jahrzehnte, bevor sich auch in Westeuropa die Erkenntnis durchzusetzen begann, dass der weitaus größte Teil der Verbrechen während des Zweiten Weltkrieges von Deutschen und ihren Kollaborateuren in Ost- und Mitteleuropa begangen worden war. Und auch die Tatsache, dass die überwältigende Mehrheit der Opfer sowohl jüdischer wie nichtjüdischer Herkunft Mittel- und Osteuropäer gewesen waren, fand erst sehr spät Beachtung. Von den rund 68.000 Häftlingen des Konzentrationslagers Dachau, die sich im April 1945 zum Zeitpunkt der Befreiung in Dachau, in einem der Außenlager oder auf einem der Evakuierungsmärsche befanden, kamen rund 18.000 aus elf verschiedenen westeuropäischen Ländern. Neben den Deutschen waren Franzosen, Italiener, Belgier und Niederländer die stärksten nationalen Gruppen. Auch im „Universum Dachau“ gab es am Ende nur einige wenige jüdische Überlebende westeuropäischer Herkunft.
Die überlebenden Widerstandskämpfer wurden nach ihrer Rückkehr in ihre Heimatländer Frankreich, Belgien, Holland, Luxemburg, Dänemark und Norwegen hoch geehrt und – soweit sie gesundheitlich dazu noch in der Lage und bereit waren – in das politische und gesellschaftliche Leben integriert. In Frankreich wie in Belgien, Dänemark oder Holland stand über Jahrzehnte hinweg der heroische, patriotische Widerstand gegen die deutschen Besatzer im Mittelpunkt des öffentlichen Gedenkens. Weder die Kollaboration Vichy-Frankreichs mit Nazi-Deutschland noch die Konflikte im sprachlich und kulturell zweigeteilten Belgien, wo es einen starken flämischen faschistischen Verband gegeben hatte, noch die Tatsache, dass es auch in den Niederlanden neben Widerstandskämpfern vor allem Gleichgültigkeit, aber auch vielfältige Kollaboration mit den deutschen Besatzern gegeben hatte, wurde zunächst Gegenstand öffentlicher Auseinandersetzung oder historischer Forschung. Die Situation in Spanien, Griechenland, Italien und England unterschied sich jeweils von der im restlichen Westeuropa:
In Spanien gerieten die spanischen Opfer des nationalsozialistischen Terrors erst in den letzten Jahren ins Blickfeld der nationalen Öffentlichkeit, als sich langsam eine Debatte über die auch nach Francos Tod weiter beschwiegene Geschichte der Verbrechen während und nach dem spanischen Bürgerkrieg entwickelte. In Griechenland konnte sich erst nach Überwindung der Militärdiktatur der Jahre 1967–1974 eine demokratische Gesellschaft entwickeln, die wiederum erst 20 Jahre später mit der Aufarbeitung der Geschichte Griechenlands während des Zweiten Weltkrieges und des Bürgerkrieges begann. Auch die Erinnerung in Italien war nach Ende des Zweiten Weltkrieges gespalten. Das Erbe der langen Jahre des Faschismus unter Mussolini und der Jahre 1940–1943, in denen Italien als Verbündeter an der Seite Nazi-Deutschlands gekämpft hatte, wurde verdrängt. Gewalttaten gegen die benachbarten Slowenen wurden ebenso wenig thematisiert wie Mussolinis Rassegesetze, durch die lange vor der Deportation der italienischen Juden durch die Deutschen die ausländischen jüdischen Flüchtlinge gezwungen worden waren, Italien zu verlassen. In England erhielt der nationalsozialistische Judenmord erst spät öffentliche Aufmerksamkeit. In den neunziger Jahren begannen Männer und Frauen, die in den dreißiger Jahren mit Kindertransporten von Deutschland und Österreich nach England geschickt worden waren, öffentlich über ihre Geschichten zu berichten. Erst im Jahr 2000 erhielt das „Imperial War Museum“, die wichtigste nationale Erinnerungseinrichtung, eine eigene Ausstellung zum Holocaust.
In Deutschland waren es zunächst die Alliierten, die nach der bedingungslosen Kapitulation Nazi-Deutschlands am 8. Mai 1945 sofort begannen, Militärgerichtsprozesse vorzubereiten. In ihnen sollten sich die Verantwortlichen aus NSDAP, SS, Reichsregierung, Industrie, Wissenschaft, Justiz, Ärzteschaft und Wehrmacht vor der Weltöffentlichkeit für ihre verbrecherischen Taten verantworten. Am 15. November 1945 begann auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Dachau der erste große Militärgerichtsprozess gegen 40 Angeklagte wegen Verbrechen im Konzentrationslager Dachau, der zum Modell für die bis zum Jahr 1948 folgenden 489 Verfahren gegen 1672 Angeklagte wurde. Die amerikanischen Dachau-Prozesse standen im Schatten der Verfahren des Internationalen Militärgerichtshofes in Nürnberg, die dank breiter, internationaler Berichterstattung weltweite Beachtung fanden. In Deutschland jedoch stießen alle Prozesse vor Alliierten Gerichtshöfen bei der Mehrheitsgesellschaft auf Gleichgültigkeit oder sogar auf entschiedene Ablehnung. Die deutsche Bevölkerung war mit dem Kampf um das tägliche Überleben inmitten von Trümmern beschäftigt, mit der Beschaffung von Wohnraum und Nahrungsmitteln. Millionen von Flüchtlingen und Vertriebenen mussten untergebracht und ebenfalls versorgt werden. Die Prozesse wurden als Angelegenheit der Siegermächte gesehen. Die Anstrengungen der Besatzungsmächte, insbesondere der Amerikaner, die Deutschen mit den von ihnen verursachten Gräueln zu konfrontieren und sie mit Hilfe von Entnazifizierungsprogrammen zu Demokraten zu erziehen, erweckten Apathie und Gleichgültigkeit. Man war sich über das Ausmaß der militärischen Niederlage im Klaren, aber die moralische Katastrophe und das Erbe der Barbarei wurde nicht zur Kenntnis genommen.
Der heute in Aachen lehrende Historiker und Politikwissenschafter Helmut König unterscheidet vier Phasen der Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in der Bundesrepublik Deutschland:
1. Die unmittelbare Nachkriegszeit bis zur Gründung der Bundesrepublik, in der die Besatzungsmächte das Geschehen bestimmten. Neben der strafrechtlichen Aufarbeitung der Verbrechen erschienen zwar Erinnerungsberichte aus Verfolgung und Widerstand, die jedoch ohne besondere Wirkung auf die Gesellschaft blieben.
2. Die fünfziger Jahre der so genannten Adenauer-Ära, die durch das Schweigen über die nationalsozialistischen Verbrechen gekennzeichnet waren. Ost-West-Konflikt und Kalter Krieg bestimmten auch die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Um die Bundesrepublik in das westliche Bündnis zu integrieren, wurden Verurteilte Straftäter amnestiert und aus der Haft entlassen, die ehemaligen Eliten des NS-Staates rehabilitiert.
3. Die lange, dreißig Jahre andauernde Phase zwischen 1960 und 1990, in der sich allmählich ein tief greifender Wandel in der Wahrnehmung und Rezeption der nationalsozialistischen Verbrechen und ihrer Bedeutung für die deutsche Nachkriegsgesellschaft vollzog und der Zivilisationsbruch „Auschwitz“ erforscht und diskutiert wurde. Nach dem Jerusalemer Eichmann-Prozess des Jahres 1961 und dem Frankfurter Auschwitz-Prozess der Jahre 1963–1965 begann man in der Bundesrepublik Deutschland über die politischen und moralischen Dimensionen des nationalsozialistischen Völkermords nachzudenken. Mitte der siebziger Jahre begann eine Vielzahl von bürgerschaftlichen Initiativen mit der Erforschung lokalgeschichtlicher Aspekte. Gleichzeitig nahm das Thema in Bildung und Wissenschaft immer breiteren Raum ein.
4. Die neue Bundesrepublik nach den politischen Umwälzungen des Jahres 1989. Mit der Vereinigung Deutschlands gerieten nicht nur die Geschichtspolitik der ehemaligen DDR und damit die Frage nach neuen Konzepten für die großen KZ-Gedenkstätten Buchenwald, Sachsenhausen und Ravensbrück in die öffentliche Diskussion. Gleichzeitig erweiterte sich der Kontext der Auseinandersetzung in einer sich kontinuierlich vergrößernden europäischen Gemeinschaft. Das Jahr 1995 markierte mit den in allen europäischen Ländern breit angelegten Veranstaltungen zum 50. Jahrestag des Kriegsendes und der Befreiung vom nationalsozialistischen Terror einen Höhepunkt des öffentlichen Gedenkens. In den darauf folgenden Jahren bestimmten Fragen des Vergleichs der beiden deutschen Diktaturen in hohem Masse die öffentliche Auseinandersetzung. Heute, 75 Jahre nachdem Hitler und seine Anhänger die Macht in Deutschland übernahmen, geht die Phase der persönlichen Zeugenschaft zu Ende. Der transnationale Diskurs zwischen West-, Mittel- und Osteuropa hat jedoch erst begonnen.